Für uns in Deutschland stellt sich diese Frage erst seit ein paar Jahrzehnten: Wie schaffen wir es, dass wir als Fußballfans in unseren Vereinen demokratisch mitbestimmen können? Auf dem Papier war und ist die Lösung ganz einfach: Wir brauchen einen e.V., einen eingetragenen Verein, mit Vorstandswahlen durch die Mitglieder. Also das Modell, das bei Fußballclubs in der Bundesrepublik lange Zeit das einzig übliche war. Und selbst bei einer ausgegliederten KgaA wie Borussia Dortmunds Fußballern gibt es immerhin noch die Mitbestimmung über die Gremien des Ursprungsvereins und den Aufsichtsrat.
Doch wir haben hierzulande zunehmend abschreckende Beispiele: Zuvorderst RB Leipzig, aber auch die Abhängigkeit von einzelnen Geldgebern bei echten Vereinen auf verschiedenen Ebenen der Liga-Pyramide sowie die um sich greifende Ausgliederung von Fußball-Abteilungen, die nicht automatisch zum kompletten, aber meist zum teilweisen Verlust von Demokratie führt. Auch in Deutschland sind daher schon sogenannte Phönix-Clubs wie der HFC Falke in Hamburg entstanden, die basisnah in den untersten Ligen mit dem Spielbetrieb beginnen.
In England sind die Besitzverhältnisse im Fußball bekanntlich traditionell weniger Fan-nah. Clubs bis tief hinein ins Amateur-Lager haben mehrheitlich Eigentümer, die letztendlich auch die Entscheidungsgewalt haben. Mit unserem e.V. vergleichbare fangeführte Vereine entstehen überwiegend aufgrund finanzieller Schwierigkeiten oder gar Pleiten. Oder weil ein Besitzer den Club mal eben von London nach Milton Keynes umziehen lässt, wie im Fall des FC Wimbledon, der offiziell heute MK Dons heißt, aber eigentlich im von Fans neu gegründeten AFC Wimbledon weiterlebt. Meist übernehmen Fan-Organisationen jedoch Vereine im Non-League-Bereich, also unterhalb der Profi-Ligen, oder sie müssen ihre große Liebe sogar mit Hilfe eines Phönix-Clubs wiederbeleben.
Schottland – ein Paradies für Mitbestimmung?
Etwas anders sieht es in Schottland aus. Dort kann man mit Fußball zwar nicht so viel verdienen wie bei den südlichen Nachbarn. Dafür gibt es mittlerweile jedoch selbst in den oberen Ligen eine Reihe von fangeführten Vereinen. In der Scottish Premier League sind es gleich drei: Motherwell, St. Mirren (aus Paisley) und die Hearts (Heart of Midlothian aus Edinburgh) sind alle mehrheitlich im Besitz ihrer Anhänger und werden über Stiftungen oder andere Fan-Organisationen kontrolliert.
In der zweiten Liga, der Championship, sollte ein Verein aus Glasgow folgen. Partick Thistle FC ist so etwas wie der dritte Verein der Stadt, eine Heimstätte für all jene, die mit der bis zum Hass gehenden extremen Rivalität zwischen den „Old Firm“-Clubs Celtic und Rangers nichts anfangen können. In diesem Jahr hat mit Queens Park ein weiterer Glasgower Verein den Sprung in die Zweitklassigkeit geschafft. Thistle ist jedoch mehr als die „Spiders“ ein alternativer Verein mit entsprechendem Klientel, der eigentlich dazu prädestiniert ist, demokratisch geführt zu werden.
Der letzte klassische Club-Besitzer war der gleichen Meinung: Colin Weir, langjähriger Fan der „Jags“, wie Partick Thistle auch genannt wird, hatte im Lotto gewonnen und sich daraufhin seinen Herzensverein mal eben zugelegt. Sein Ziel war es jedoch, Thistle mittelfristig zu einem auf breiter Basis fangeführten Verein zu machen. Leider verstarb Weir im November 2019, bevor sein Wunsch umgesetzt werden konnte. Sein Vermächtnis war klar, doch dem Club-Vorstand schien die eigene Machtposition zu sehr zu gefallen, als dass man einen schnellen Transfer der Anteile an eine Fan-Organisation ermöglicht hätte.
Wer sind die wahren Fans von Partick Thistle?
Nun muss es natürlich auch erstmal einen verlässlichen, seriösen Verhandlungspartner geben. Doch der schien mit der 2021 gegründeten Jags Foundation gefunden, einer Vereinigung, der mehr als 900 Fans angehören. Für einen Verein, dem außerhalb der Premier League 2000 bis 4000 Menschen ins Firhill Stadium folgen, eine beträchtliche Zahl. Die Verhandlungen mit dem Vereinsvorstand unter Vorsitz von Jacqui Low zogen sich jedoch in die Länge. Der Wille des verstorbenen Weir war klar, die Art der Umsetzung der Fan-Mitbestimmung jedoch nicht. Kaum ein Fan hätte jedoch mit der Wende gerechnet, die im August dieses Jahres erfolgte.
Plötzlich präsentierte der Vorstand einen neuen Mehrheitseigentümer für die Jags: den Partick Thistle FC Trust. Diese Stiftung, die bereits gut 19 Prozent der Anteile am Club hielt, sei geeignet, Weirs Vision eines von Fans geführten Vereins umzusetzen, hieß es. Der Haken an der Sache: Der PTFC Trust war eine zuletzt inaktive Organisation ohne nennenswerte Unterstützung aus der Fanszene. Nun trat auf einmal ein neuer Stiftungsrat, bestehend aus fünf Mitgliedern, auf den Plan. Die Gruppe hatte sich außerhalb der Stiftung gefunden und diese dann nach Gesprächen übernommen. Der Mann, der die Gruppe zusammenbrachte, aber selbst kein Mitglied davon ist, war Stewart MacGregor. Etwas anrüchig wird diese Tatsache dadurch, dass er als Spieleragent arbeitet und mehrere Klienten bei Partick Thistle hat. Allerdings betonten die Trust-Mitglieder, dass MacGregor nur den Kontakt zwischen ihnen hergestellt habe und keinen Einfluss auf ihre Tätigkeit nehme.
Proteste gegen Verzögerungen und Intransparenz
Im September wurde die Übertragung der 55 Prozent Club-Anteile von Weirs Unternehmen Three Black Cats zum PTFC Trust vollzogen. Die Mehrheit der Thistle-Fans sah dies aus zwei Gründen überaus kritisch: Erstens war der ganze Vorgang intransparent bis klandestin und parallel zu den Verhandlungen mit der Jags Foundation abgelaufen. Und zweitens bekannte sich der Trust zwar dazu, auch andere Fans künftig stärker einzubeziehen, blieb aber schwammig, was den Zeitplan und die Art der Einflussnahme anbetraf. So hieß es, man strebe einen Vorstandsposten im Verein an – gleichzeitig war man aber zufrieden damit, den bestehenden Vorstand erstmal für den Rest der Saison weitermachen zu lassen. Inwiefern man die eigene Organisation, also den neuen Mehrheitseigentümer, offener für die Mitwirkung anderer Fans machen würde, blieb ebenso vage wie die Einbeziehung anderer Player aus der Anhängerschaft, darunter die Jags Foundation.
Gegen das Vorgehen des Vereinsvorstandes, insbesondere der Vorsitzenden Jacqui Low, und ihren Deal mit dem PTFC Trust gab es seither Proteste in- und außerhalb des Stadions. Manche Unmutsäußerungen gingen dabei zu weit; wenig überraschend einige davon in den sozialen Medien. Doch der Widerstand insgesamt war nicht so einfach zu diskreditieren und unüberhörbar. Er beinhaltete auch Boykottaufrufe, so dass zu einigen Heimspielen deutlich weniger Fans ins Firhill Stadium kamen. Einen direkten Zusammenhang zu den wochenlang bescheidenen Ergebnissen von Thistle sollte man eher nicht herstellen, aber geholfen hat die ausbleibende Unterstützung wohl nicht.
Die Wende hin zum echten Fanverein?
Es hätte ein langer, dunkler Winter für Partick Thistle werden können, doch letzte Woche kam Bewegung in die Sache. Sieben Mitglieder des Vereinsvorstands traten unerwartet zurück, darunter Jacqui Low. Dieser Schritt wurde nun von den neuen Mehrheitseigentümern im PTFC Trust unterstützt. Das verbliebene Vorstandsmitglied Duncan Smillie übernimmt interimsweise bis zum Ende der Saison den Vorsitz. Im Zuge dieser Entwicklung gingen der Trust und die Jags Foundation aufeinander zu und kamen endlich zu „fruchtbaren Gesprächen“ zusammen, die gleich mehrere Ergebnisse hervorbrachten. Im neuen Thistle-Vorstand wird nun neben den Trustees Richard Beastall und Fergus Maclennan auch Caroline Mackie von der Foundation sitzen.
Am 8. Dezember veröffentlichten der PTFC Trust und die Jags Foundation eine abgestimmte Erklärung. Darin wird die Bildung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe angekündigt, die auch andere Fangruppen einbeziehen soll. Diese soll bis Ende des Monats Vorschläge für das Modell eines künftig fangeführten Vereins und für die nötigen Änderungen am PTFC Trust erarbeiten. Gleichzeitig einigte man sich darauf, die Mannschaft am kommenden Samstag im Spiel gegen Spitzenreiter Ayr United wieder mit voller Kraft zu unterstützen.
Von allen Seiten sind friedliche Töne zu hören – und auch ein bisschen Selbstkritik von Trust-Mitglied Neil Drain:
We’ve put the cart before the horse by making sure we got the shares before the fan model was correct. […] Now we are aiming to get the best fan model that suits Partick Thistle.“
BBC Scotland Online
Noch ist im Glasgower Stadtteil Maryhill nichts in trockenen Tüchern. Noch weiß man nicht, ob die Arbeitsgruppe funktionieren wird und ihre Ergebnisse von den Mehrheitseigentümern wirklich 1:1 umgesetzt werden. Doch immerhin scheint der Wille zur Zusammenarbeit von beiden Seiten ernst gemeint zu sein. Angesichts der jüngsten Entwicklungen sollen nun sogar potenzielle Geldgeber/innen bereitstehen, die auf eigene Vertreter/innen im Vorstand verzichten würden. Vielleicht wird 2023 also sogar ein richtig positives Jahr für die Rot-Gelben. Die im Übrigen seit 2015 in „Kingsley“ ein Maskottchen haben, das aussieht wie eine schlecht gelaunte Mischung aus einer Sonne und einer Distel („Thistle“) – das war damals sogar Stern.de eine Meldung wert.